EN 81-76: Die praktische Anwendung der neuen Norm
In Teil 1 dieser Artikelserie wurde die Funktionalität eines Aufzugs nach EN 81-76:2025 beschrieben. Dieser zweite Teil befasst sich mit der praktischen Anwendung und den Voraussetzungen für eine geeignete Konfiguration des Aufzugs.
Von Eberhard Vogler
In EN 81-76 wird an einigen Stellen auf die Norm EN 81-70 verwiesen: Fahrkorbabmessungen, Eigenschaften der Sprachansagen und der Bedienelemente in den Haltestellen und für Kommunikationssysteme, ein akustisches Signal bei Ankunft in der Haltestelle und die Offenhaltezeit der Türen.
Die EN 81-76 beinhaltet somit nicht alle maßgeblichen Anforderungen für einen Aufzug gemäß EN 81-70. Vielmehr müssen abhängig vom konkreten Einsatzgebiet des Aufzugs bzw. der Art der Nutzung des entsprechenden Gebäudes weitere Anforderungen zusätzlich ausgewählt werden.
Pauschale Forderungen in Ausschreibungen
In einigen Ausschreibungen finden sich heute schon pauschale Forderungen nach Aufzügen gemäß EN 81-76. Für die Planung, Applikation und den Betrieb von Aufzügen nach EN 81-76 bildet das objektbezogene Evakuierungskonzept des Gebäudes die Grundlage. Liegt dieses vor, können die Konfigurationen der Aufzüge festgelegt werden.
Die ausschließliche Forderung nach Aufzügen gemäß EN 81-76 ist daher nicht ausreichend. Das Evakuierungskonzept baut üblicherweise auf dem Brandschutzkonzept auf oder ist Bestandteil dieses Konzepts. Randbedingungen für Evakuierungsaufzüge, die mit dem Errichter des Gebäudes geklärt werden müssen, finden Sie im Kasten.
Ich empfehle, grundsätzlich den automatischen Evakuierungsbetrieb vorzusehen, da die Evakuierung dadurch sofort beginnen kann und es nicht zu Wartezeiten auf einen Fahrer oder Fernunterstützer kommt. Der fahrerunterstützte Betrieb sollte abhängig von der Art der Nutzung des Gebäudes sowie von nationalen, historischen und kulturellen Traditionen hinzugewählt werden. Inwieweit sich die fernunterstützte Evakuierung durchsetzt, bleibt abzuwarten.
Schulung für Betreiber, Nutzer und Feuerwehr
Neben der Ausstattung der Evakuierungsaufzüge und dem gesamten Evakuierungskonzept müssen die Betreiber und die Nutzer des Gebäudes sowie die Feuerwehr vor Ort über den späteren Betrieb der Aufzüge informiert und geschult werden. Zudem müssen die für den Evakuierungsbetrieb benötigten Personen ausgewählt werden, darunter Evakuierungshelfer auf den Stockwerken, Fahrer beim fahrerunterstützten Evakuierungsbetrieb und Fernunterstützer beim fernunterstützten Evakuierungsbetrieb.
Die EN 81-76 legt den Schwerpunkt auf die Evakuierung von Menschen mit Behinderungen und sollte in erster Linie auch diesen zur Verfügung stehen. Mobile Menschen sollen andere zur Verfügung stehende Fluchtwege nutzen. Um dies sicherzustellen, sollten die Gebäudenutzer entsprechend informiert und ggf. Evakuierungshelfer ausgewählt werden, die dies durchsetzen.
Und die anderen Aufzüge
im Gebäude?
Foto: © TK ElevatorNeben den Evakuierungsaufzügen selbst muss auch festgelegt werden, wie sich andere Aufzüge im Gebäude verhalten sollen. Wenn es sich nicht um Feuerwehraufzüge nach EN 81-72 handelt, sollten sie nach EN 81-73 außer Betrieb genommen werden (Brandfallsteuerung). Bei Feuerwehraufzügen stellt sich die Frage, ob diese vor dem Eintreffen der Feuerwehr als Evakuierungsaufzüge genutzt werden können.
Dies hat Vor- und Nachteile: Einerseits kann der Zeitraum bis zum Eintreffen der Feuerwehr für die Evakuierung genutzt werden, andererseits muss die Feuerwehr beim Eintreffen gegebenenfalls warten, bis der Evakuierungsaufzug die Feuerwehr-Zugangsebene erreicht hat.
Dies sollte im Einzelfall im Evakuierungskonzept berücksichtigt werden und ist vorab mit der örtlichen Feuerwehr abzustimmen. An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass das Evakuierungskonzept das Vorgehen bei Eintreffen der Feuerwehr berücksichtigen sollte. Das Evakuierungskonzept sollte auch alternative Evakuierungswege für den Fall, dass Evakuierungsaufzüge nicht zur Verfügung stehen oder ausfallen, beinhalten.
Weitere Regelwerke, Ausblick
Aktuell wird in einer ISO-Arbeitsgruppe an der Norm ISO 8101-1 gearbeitet, welche die ISO 18870:2014 (Anforderungen an Aufzüge, die zur Unterstützung der Evakuierung von Gebäuden eingesetzt werden) ablösen wird. Diese Norm deckt Evakuierungsaufzüge im Allgemeinen ab, also nicht nur für Menschen mit Behinderungen. Der aktuelle Normentwurf basiert auf der EN 81-76 und berücksichtigt auch Anforderungen aus der amerikanischen ASME A17.1 (OEO, Occupant Evacuation Operation).
Daneben wird an Methoden zur Berechnung der Förderleistung (ISO 8100-32) gearbeitet, um die Anzahl und Konfiguration der notwendigen Evakuierungsaufzüge individuell festlegen zu können. Insbesondere für hohe Gebäude sind solche Berechnungen eine entscheidende Grundlage für die Evakuierungsdauer und somit für das Evakuierungskonzept.
Da die EN 81-76 neu ist, muss an dieser Stelle auch darauf hingewiesen werden, dass gesetzliche Regelungen wie z. B. Länderbauordnungen und Hochhausrichtlinien, welche Hinweisschilder zum Verbot der Benutzung von Aufzügen im Brandfall und Brandfallsteuerungen vorschreiben, entsprechend angepasst werden müssen, und Evakuierungsaufzüge nach EN 81-76 aufgenommen werden. Auch Empfehlungen wie etwa die Hinweise zur Ausschreibung von Aufzugsanlagen (AMEV) sind hiervon betroffen.
Der Autor ist Mitglied der Working Group 6 (Fire related issues) des CEN/TC 10, in welcher die Norm EN 81-76 erarbeitet wurde, sowie Obmann des deutschen Spiegelgremiums und Chefingenieur für Vorschriften und Normen bei TK Elevator.
Weitere Informationen: Teil 1: Neue Norm zur Evakuierung von Menschen mit Behinderungen
Randbedingungen für
Evakuierungsaufzüge nach
EN 81-76: • Anzahl, Lage und Größe der Evakuierungsaufzüge, der zu evakuierenden Haltestellen sowie der
Evakuierungsausstiegshaltestelle/n (EAH‘s) unter Berücksichtigung der maximal zulässigen Evakuierungsdauer
• Klärung, ob kapazitätsabhängig vor der Evakuierungsausstiegshaltestelle mehrere Stockwerke angefahren werden sollen (bei automatischem Evakuierungsbetrieb) und ggf. notwendige Definitionen, wenn die Evakuierung in Zonen vorgesehen ist.
• Elektronische Schnittstellen zum Gebäude (z. B.: manueller Evakuierungsaufzugschalter, Brandmeldeanlage, Gebäudemanagementsystem) • Gewählte Betriebsarten (automatischer, fernunterstützter sowie fahrerunterstützter Evakuierungsbetrieb)
• Art des Gebäudes:
- niedere einfache Gebäude => Evakuierungsaufzüge der Klasse A
- höhere Gebäude (mindestens, wenn Feuerwehraufzüge vorgesehen sind) und bei Gebäuden mit einer hohen Anzahl an Menschen mit Behinderung => Evakuierungsaufzüge der Klasse B
• Klärung der Umsetzung des Dienstunterbrechungssignals (z. B.: manueller Schalter am
Gebäudezugang, Brandmeldeanlage) sowie die dann anzufahrende Haltestelle
• Anordnung der notwendigen Bedieneinrichtungen, Hinweise, Anzeige-, Kommunikations- und Überwachungseinrichtungen sowie ggf. des Bedientableaus beim fernunterstützten Evakuierungsbetrieb.
An dieser Stelle sei auch auf EN 81-76:2025,
Anhänge B und C verwiesen.
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